„Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen“
George Santayana, spanisch-amerikanischer Philosoph
Dies ist keine vollständige Geschichte. Wir können einfach an dieser Stelle nicht alle Aspekte unserer Geschichte ausführlich beleuchten. Das würde den Umfang dieser Seiten schlicht sprengen. Wir können an dieser Stelle nur einen kleinen Einblick geben in das, was bei uns seit 1860 passiert ist. Gerne beantworten wir aber auch alle weitergehenden Fragen zu unserer Geschichte. Nun aber los...
Vom Verein zur Verbindung
Die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts waren für Göttingen aus musikalischer Sicht von höchster Bedeutung. Johannes Brahms fand hier seine erste Liebe, Clara Schumann und Joseph Joachim weilten immer wieder in den Mauern der Stadt, und die beiden großen Chöre Göttingens, die “Singakademie” und der “Cäcilienverein”, erreichten, angestachelt durch die gegenseitige Abneigung ihrer Leiter Eduard Hille (seit 1855 Akademischer Musikdirektor), und Julius Otto Grimm (der nach dem Willen von Hilles Vorgänger Akademischer Musikdirektor hätte werden sollen), immer neue Höhen.
Aus beiden Chören waren sich im Herbst 1858 acht Studenten näher gekommen, um sich im “Quartettgesang” zu üben. Gegen Ende der Herbstferien 1859 machten diese acht eine Spritztour nach Adelebsen, wo der Vater des einen Pastor war und man nun ein Konzert abhielt, dem sich ein kleiner Ball anschloss. Bei der Abendtafel hielt nun jener Pastor eine "patriotische Rede", die mit der Ermahnung zu weiterem Zusammenschluss und zur Pflege der Musik endete. Dadurch bestärkt, verfasste man zum Beginn des Wintersemesters 1859/60 einen Aufruf an die Studentenschaft zur Bildung eines Studentengesangvereins. Obwohl man von Beginn an bei der Auswahl neuer Mitglieder in Bezug auf ihr musikalischen Können besonders kritisch war, stieß dieser Aufruf auf unerwartet hohe Resonanz. Als man Ende Januar 1860 bei einem Konzert unter der Leitung des ersten Dirigenten Hermann Friedrich August Thureau (später Stadt- und Hoforganist sowie Dirigent in Eisenach) im “literarischen Museum“ auftrat, war der Chor bereits auf 40 – 50 Personen angewachsen. Das entsprach übrigens etwa 8% der Göttinger Studenten, denn im WS 1859/60 waren gerade mal 674 Studenten immatrikuliert (auf die aktuell rund 30.000 Studierenden umgerechnet wären das übrigens rund 2.400 Aktive...).
Kurz: Der Erfolg dieses Konzertes war so überragend, dass man tatsächlich beschloss, auch weiterhin zusammenzubleiben. Dieser "Studentengesangverein der Georgia Augusta" (St.G.V.), wie er sich nannte, nahm sich die "musikalische Unterhaltung und Förderung des musikalischen Sinnes durch Übung und Aufführung von Männerquartetten" zur Aufgabe. Sein genaues Gründungsdatum ist im Strudel der Geschichte verloren gegangen, das erste erhaltengebliebene Versammlungsprotokoll aber datiert vom 20. Juni 1860, so dass wir heute dieses Datum als unser Gründungsdatum ansehen.
Auch wenn in manchen Semestern die Mitgliederzahlen gefährlich gering war, so waren doch gerade die Anfangsjahre musikalisch bedeutsam, denn Thureaus Nachfolger am Pulte des Dirigenten wurde ein junger Student namens Julius August Philipp Spitta*), der mit seinem Witz und seinem Sachverstand maßgeblich zum Erhalt des Vereins beitrug und für den guten Namen des Vereins in der Stadt sorgte. Mit diesem Grundstein versehen stabilisierte sich das Vereinsleben recht bald und der Studenten-Gesangverein der Georgia Augusta wurde in den darauf folgenden Jahren zu einem festen Bestandteil des kulturellen Lebens der Universität und der Stadt. Da der Studenten-Gesangverein bis heute (wenn auch heute unter dem Namen “Studentische Musikvereinigung”) besteht, sind die Blauen Sänger die älteste kulturelle Studentengruppe der Göttinger Georg-August-Universität.
*) Berühmt jedoch wurde Philipp Spitta erst später: als Bachbiograph und Begründer der modernen Musikwissenschaft. Und er war einer der ersten Unterzeichner einer Petition zur Verbesserung der musikalischen Situation Göttingens, die 1862 zur Gründung des Göttinger Symphonie Orchesters führten. Mehr berühmte Leute bei den Blauen Sängern findet man übrigens hier.
Bis zur Spaltung (1874 bis 1887)
War der St.G.V auf der einen Seite nur den Studierenden der Göttinger Universität vorbehalten, so war er dennoch keine Verbindung, auch wenn die Mitglieder oftmals selbst korporierte Studenten waren. Erst nach bewegter Entwicklung wurde am 7. August 1874 durch Annahme einer entsprechenden Satzung dieser Schritt getan: man wählte sich Farben (hellblau-weiß-hellblau), einen Zirkel sowie ein Wappen und untersagte seinen Mitgliedern, gleichzeitig einer anderen Studentenverbindung anzugehören. Im Jahre 1881 schließlich wurde ein Altherrenverband (A.H.V.) gegründet.
Alsbald nach der Umwandlung in eine Verbingung nahm man im Sommer 1874 Kontakte mit der Akademischen Liedertafel Berlin, dem AV Wien, der Studentischen Liedertafel Greifswald, dem Akademischen Gesangverein München und dem Akademischen Gesangverein Würzburg auf, die zum Abschluss von Kartellverträgen führten, also mit dem Kartellverband, der die Keimzelle des späteren Sondershäuser Verbandes akademisch-musikalischer Verbindungen (kurz: SV) bildete.
Obwohl man nun also 1874 eine Verbindung war, sah man sich dennoch bewusst als Gegenpart zu den üblichen Verbindungen, namentlich den Corps und Burschenschaften. So bekannte man sich von Anfang an zum sog. “schwarzen Prinzip”, d.h. man trug weder Band noch Mütze. Auch lehnte man seitens der Verbindung die Mensur und das Duell ab und überließ letzteres den einzelnen Mitgliedern als deren private Angelegenheit. Auch wurde ein “korporiertes Leben", wie es andere Verbindungen hatten, lange Zeit nicht gepflegt. Ein im WS 1874 eingeführter Kneipabend z.B. wurde nach einigen Semestern wegen geringer Beteiligung wieder aufgehoben.
Im Wintersemester 1886/87 kam es jedoch zu Streitereien innerhalb des Bundes. Auslöser war die grundsätzliche Ausrichtung des Vereins. Während der größere Teil weiterhin einen hohen musikalischen Anspruch und ein entsprechendes Wirken auch in der bürgerlichen Gesellschaft anstrebte, wollte die Minorität die studentisch-geselligen Part gestärkt sehen. Schließlich hatten sich die beiden Gruppen den Bund soweit gespalten, dass eine Einigung nur noch mit Hilfe des A.H.V. möglich erschien. Alle Versuche halfen jedoch nichts, und am 10. Juni 1887 beschloss man auf einer gemeinsamen Versammlung die Auflösung des aktiven Vereines. Ein Alter Herr erklärte daraufhin das Treffen zu einer privaten Veranstaltung und bat die Minorität, den Raum zu verlassen, wonach die verbliebene Mehrheit, die gewillt war, an den Prinzipien des St.G.V. festzuhalten, umgehend einen neuen Studenten-Gesangverein rekonstruierte. Die ausgeschiendene Minorität hingegen gründete am folgenden Tag den farbentragenden “Akademischen Gesangverein Gottinga” (grün-weiß-gold). Aufgrund dieser Farben nannte man seine Mitglieder auch kurz “Grüne Sänger”, während der Studenten-Gesangverein “Blaue Sänger” genannt wurde. Der A.G.V. Gottinga, später Sängerschaft Gottinga, der lange Zeit den Deutschen Sängerschaften (DS) angehörte, teilte sich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts schließlich wiederum in die Turnerschaft Gottinga und die Sängerschaft Gotia auf. Beide Verbindungen existieren heute noch, zum einen als Turnerschaft Gottingo-Normannia im MK, zum anderen als Sängerschaft Gotia et Baltia Kiel zu Göttingen in der DS.
Bis zum Ende der Weimarer Republik (1887 bis 1933)
Zu einer erneuten Hinterfragung der Prinzipien kam es in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die ablehnende Haltung, die der Bund insb. auch zum Duell pflegte, wurde innerhalb der Göttinger Verbindungen weidlich kolportiert, und die Mitglieder des St.G.V. sahen sich einer immer größeren Anzahl von Anfeindungen und Provokationen ausgesetzt. Verschärft wurde die Situation, als man in den Sommersemesterferien das Vereinslokal wechseln musste und nun bei Burhenne im “Deutschen Garten” in der Reinhäuser Landstraße ein Zimmer neben dem ebenfalls dort residierenden Corps Brunsviga im KSCV bezog. Doch hier eskalierte die Situation weiter, und Duellforderungen zwischen den Mitgliedern nebeneinander liegenden Bünde nahmen weiter zu, Als gar nichts mehr half, sah man seitens des St.G.V. keine andere Möglichkeit mehr, als sich auch von Bundesseite her dem Duell zu stellen. Es wurde ein Ehrenrat geschaffen, auf den bis dahin hatte verzichten können, es wurden bundeseigene Säbel angeschafft und das "Belegen des Paubodens" den Mitgliedern verpflichtend auferlegt. Von der Mensur (also dem akademischen Sportfechten als Wettstreit zwischen zwei Verbindungen) nahm man jedoch auch weiterhin Abstand.
Gerade aber auch diese negativen Erfahrungen und das Fehlen von räumlichen Alternativen waren es, die die Bundesbrüder dazu bewegten, nun auch verstärkt dem Wunsch nach einem eigenen Bundeshaus nach zu gehen. 1896 wurde eine Hausbaukommission eingesetzt, die sich zunächst um die notwendigen Mittel kümmerte, dann aber im Jahre 1900 mit dem Erwerb eines Grundstücks im Ostviertel am Düstere-Eichen-Weg in die konkrete Phase einstieg. In Hannover fand man im Architekten Eduard Wendebourg (der im Jahre 1880/81 seine Militärzeit in Göttingen geleistet hatte und in jenem Jahr Gast des St.G.V. war) einen fähigen Mann, der bereit war, die planerische Arbeit zu übernehmen. So konnte am 17. Juni 1903, nach mehreren Bauentwürfen und diversen Versammlungen, der Grundstein zum Haus der Blauen Sänger gelegt werden, das schließlich am 24. Mai 1904 feierlich seiner Verwendung übergeben werden konnte. Alsbald zeigte es sich jedoch, dass das Haus trotz seiner Großzügigkeit in einigen Bereichen zu klein dimensioniert war. Die Folge waren zwei großzügige An- und Umbauten in den Jahren 1910 und 1928.
Musikalisch waren diese Jahre eine Blütezeit. Über Jahre hinweg waren wir der Chor der Universität, geleitet vom Akademischen Musikdirektor Otto Freiberg, und Ende der 20er Jahre lag das Dirigat bei Dr. Wilhelm Kamlah, einem berühmten Philiosophen und Theologen, der heute als bedeutendster Wiederentdecker Heinrich Schütz’ gilt und maßgeblich zu dessen Renaissance im 20. Jahrhunderts beitrug. Aber nicht nur die “offizielle Chorarbeit” wurde betrieben, sondern die Mitglieder schrieben selbst kleine Opern und Singspiele meist komödiantischen Inhalts, die zu den Festen ihre rauschenden Aufführungen erlebten. Selbst ein kleines Orchester, bestehend aus Bundesbründern, lässt sich heute noch nachweisen. Allerdings begann Ende '20er Jahre ein schleichender Niedergang, und diese musikalische Blüte endete, als Wilhelm Kamlah 1933 sein Amt aufgab.
Die Blauen Sänger im Nationalsozialismus (1933 bis 1945)
Das Ende des Dirigats Wilhelm Kamlahs im Jahre 1933 markiert auch zeitlich einen entscheidenden Einschnitt in der Geschichte der Blauen Sänger. Wie die Mehrzahl der Studenten in Göttingen sahen auch viele Mitglieder des Studenten-Gesangvereins leider im aufkeimenden Nationalsozialismus eine Lösung der gesellschaftlichen Probleme. Auch wenn die noch vorhandenen Quellen (unser Archiv wurde 1945 weitgehend zerstört) vermuten lassen, dass nur eine Minderheit zu aktiven Nationalsozialisten zu zählen waren, so war die Mehrheit auf jeden Fall nicht in der Lage, zu erkennen, welch verbrecherisches System der Nationalsozialismus war.
Bereits im Sommer 1933 wandte man sich von den demokratischen Prizipien ab, führte das “Führerprinzip” ein und wandelte das Haus in ein kasernenartiges Kameradschaftshaus um. Auch müssen wir heute feststellen, dass die musikalische Arbeit immer mehr vernachlässigt wurde. Ein Orchester, das unter den Bundesbrüdern entstanden war, dämmerte ein, und die Leistungsfähigkeit des Chores kam über einfache mehrstimmige Studentenlieder kaum hinaus. Wenigstens dem Schritt der Gleichschaltung in einem einzigen Dachverband, dem National-Sozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB), den die Reichsführung immer nachdrücklicher forderte, verweigerte man sich. Als die Repressalien gegen das Verbindunsgwesen (siehe z. B. die "[[Göttinger Krawalle]]", die "[[Göttinger Maibaumaffäre]]" oder das "[[Heidelberger Spargelessen]]") allerdings überhand nahmen, sah man am 26. Oktober 1935 keine andere Möglichkeit mehr, als den Betrieb auf dem Haus einzustellen, sämtliche Aktiven in den A.H.V. zu überführen und die Aktivitas aufzulösen. Einen Tag später löste sich auch der Sondershäuser Verband auf.
Das Haus stand nun eine Zeit lang leer und wurde sporadisch an die Händel-Gesellschaft sowie die Akademische Orchester- Vereinigung (A.O.V.) vermietet. Ab dem Wintersemester 1936/37 war es dann eine NS-Kameradschaft, die das Haus zunächst nur für ihre wöchendlichen Treffen nutzte, alsbald jedoch Interesse zeigte, das Haus dauerhaft zu mieten. Da eine andere Nutzung nicht ersichtlich war und auch andere Teile des örtlichen NS-Systems ein Auge auf das Haus geworfen hatten, schloss man schließlich im Sommer 1938 einen entsprechenden Vertrag mit dem NSDStB, allerdings mit der Auflage an den A.H.V. des ehem. Studenten-Gesangvereins, dass aus seinen Reihen eine gehörige Zahl dem NS-Altherrenbund beizutreten habe und somit eine nationlasozialistische Altherrenschaft (A.H.S.) entstehen konnte. Gleichzeitig versuchte man aber auch, diese Kameradschaft vornehmlich mit Söhnen Alter Herren zu versehen, um so die Traditionen des früheren Studenten-Gesangvereins fortführen zu können, und tatsächlich zeigten sich im Haus alsbald wieder die alten Insignien der Blauen Sänger. Ebenso versuchte man, wieder ein geregelteres musikalisches Leben zu etablieren, wenn es auch die Qualität der Jahre vor 1933 nicht mehr erreichte
Bis 1941 hielt dieses Konstrukt zweier nebeneinander bestehender Vereine (A.H.V./A.H.S.). Dann setzten die Nationalsozialisten erneut dazu an, sich in den Besitz der Eigentümer der Alt-Herrenverbände zu bringen. Nun sollte das Eigentum an den Verbindungshäusern von den Altherrenverbänden auf die nationalsozialistischen Altherrenschaften übertragen werden. Als auch hier der Druck mit der Zeit immer größer wurde, beschloss der A.H.V. schließlich, mit Wirkung zum 1. Mai 1943 in der A.H.S. aufzugehen. Damit ging auch das Haus in den Besitz einer nationalsozialistischen Organisation über. Mit dem Einzug alliierter Truppen in Göttingen am 8. April 1945 wurden alle nationalsozialistischen Organisationen, damit auch alle Kameradschaften und Altherrschenschaften und eben damit auch die Kameradschaft Schlageter mit der dazugehörigen A.H.S., aufgelöst und ihr Eigentum vollständig beschlagnahmt.
Die Blauen Sänger seit Ende des Krieges (1945 bis heute)
Alsbald zogen britische Truppen in das Haus ein und nutzen es bis zum Sommer 1947 als Unteroffiziersheim. Dann wurde das in Treuhänderschaft befindliche Haus an die “Werner-Schule vom Roten Kreuz” vermietet, die es zunächst mühsam wieder herrichten und möblieren musste, um es in den kommenden gut vier Jahren als Fortbildungsstätte der Schwesternschaften des DRK nutzen zu können. Da die Räumlichkeiten jedoch viel zu eng waren, kaufte das DRK schließlich 1951 eine leerstehende Villa in der Reinhäuser Landstraße, wohin die Werner-Schule Mitte November 1951 umzog. Am 19. November 1951 konnten die Blauen Sänger ihr Haus wieder in Besitz nehmen. Vom vormals zahl- und reichhaltigen Inventar hatte lt. Übergabeprotokoll die Nachkrieszeit überlebt:
- drei Tische,
- sieben Stühle
- ein Gartenspaten.
Alles andere war entweder zerstört worden oder requiriert und zur anderweitigen Verwendung abtransportiert - oder hatte in alliierten Kreisen andere Liebhaber gefunden.
Schon 1947 war es gelungen, mit Genehmigung der britischen Militärregierung den alten A.H.V. wiederzugründen. Zeitnah dazu hatte sich an der Göttinger Universität ein “Studentischer Musikkreis” zusammen gefunden, dessen Unterstützung der AHV schließlich übernahm. Die kulturelle Arbeit, die der Studentische Musikkreis bis 1951 geleistet hatte, fand nun mit dem Wiederbezug des Hauses einen rasanten Aufschwung. Besonders der Chor, der Mitte 1950er Jahre von einem reinen Männerchor durch die Aufnahme des Göttinger Händelchores zu einem großen gemischten Chor wurde, konnte über einige Jahre hinweg zusammen mit dem Göttinger Symphonieorchester unter Günther Weißenborn große Konzerte zur Aufführung bringen (u.a. Beethovens 9. Symphonie). 1958 einigten sich AHV und Aktivitas - nicht ohne kontroverse Diskussionen - auf den gemeinsamen Namen "Studentische Musikverbindung an der Georgia Augusta im SV" und zwei Jahre später feierte man glanzvoll das 100. Stiftungsfest.
Die gesellschaftlichen Veränderungen der ausgehenden 1960er Jahre veränderten auch die Blauen Sänger nachhaltig. Hatten Frauen - zumindest musikalisch - bei den Blauen Sängern seit dem Neubeginn eine wichtige Stimme, so wollte man ihnen diese Chance auch innerhalb der Blauen Sänger geben. Schaut man sich die Quellen jener Zeit an, so kann man überrascht feststellen, wie wenig Widerspruch die Aktivitas für dieses Ansinnen bekam. Es war längst selbstverständlich geworden, dass man auch Frauen bei den Blauen Sängern traf. Viel heftiger waren, als Mitte und Ende der 1970er Jahre als die erst Frauen sich philistrieren lassen und Mitglied des A.H.V. werden wollten, die Reaktionen des Dachverbandes die in Ultimaten und Aussschlussdrohungen gipfelten und auch die Blauen Sänger über einen Austritt nachdenken ließen. Zum Glück aller kam es jedoch nicht zum Äußersten.
Viel positiver hingegen entwickelte sich die musikalische Arbeit. War - neben dem Chor - bereits in den 1950 aus der Kammerensemble ein respektabeles Streichorchester geworden, so wuchs es sich bis in die 1990er in ein vollständiges Symphonieorchester aus. Hinzu tat ein Theaterensemble mit regelmäßigen Einstudierungen, sowie im Jahre 1996 eine Bigband, die keinen Vergleich zu scheuen braucht. Auch innerhalb des AHV entstand auf regelmäßiger Projektbasis ein gemischter Chor, der Bundesgeschwister und Freunde der Blauen Sänger aus aller Welt zusammenführt. Heute haben die Blauen Sänger eine musikalische Vielfaltigkeit erreicht, die kaum eine andere Institution in Göttingen bieten kann.
Wie stehen wir heute zu unserer Geschichte?
Im Laufe ihres Bestehens haben sich die Blauen Sänger unter sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen mehrfach gewandelt, wobei man aus der rückschauenden Sicht des Wissenden leider sagen muss, dass dies nicht immer zum Vorteil geschah. Besonders die Zeit zwischen 1933 und 1935 ist aus unserer Sicht - und mit dem Wissen um das, was in Deutschland in jener Zeit passiert ist - besonders kritisch zu sehen. Kritisch gerade deshalb, weil in dieser Zeit die letzte Möglichkeit bestand, Widerstand zu leisten. Weder nach Auflösung der Aktivitas Ende 1935 noch nach dem Einzug der NS-Kamerdschaft auf das Haus der Blauen Sänger war die Möglichkeit dazu so gut wie davor.
Vorteilhaft jedoch war die Entwicklung im ausgehenden 20. Jahrhundert. Die bildungs- und gesellschaftspolitischen Spannungen der 60er und 70er Jahre waren in Göttingen besonders zu spüren, was im Jahre 1969 die Umbenennung in "Studentische Musikvereinigung Blaue Sänger" und eine Abkehr von vielen (aber nicht allen) korporativen Traditionen zur Folge hatte. Eine Folge dieser Entwicklung war, daß die Blauen Sänger sich als einer der ersten Bünde den Frauen öffneten. Vor allem diese “Damenfrage” löste auch innerhalb des Sondershäuser Verbandes heftigste Diskussionen aus, die erst nach über 20 Jahren im Jahre 1993 endgültig beigelegt werden
Im Jahre 2000 feierten die Blauen Sänger in einem rauschenden Fest ihr 140jähriges Bestehen. Zu diesem Anlass entstand daher auch eine neue und ausführliche Bundesgeschichte. Im Rahmen einer Promotion entsteht darüber hinaus derzeit eine Dissertation mit dem Thema “Geschichte und Entwicklung deutscher Korporationshäuser am Beispiel des Hauses der Blauen Sänger”.
Aber das wird nicht das Ende sein, denn wir wollen nicht nur die Zukunft gestalten, sondern stets auch wissen, was wir hätten besser machen können oder sogar müssen. Es ist schon etwas dran an dem Satz, dass man nur weiß, wohin man geht, wenn man auch weiß, woher man kommt. Und unsere Geschichte zeigt uns, dass auch wir mit unserer Musik eine gesellschaftliche Verantwortung haben und etwas zum Miteinander der Menschen beizutragen haben. Dieser Verantwortung stellen wir uns u. a. auch durch die Chor- und Orchesterkonzerte, die wir seit Januar 2014 regelmäßig im Grenzdurchgangslager Friedland für die dort befindlichen Menschen geben.
Es bleibt also spannend!