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Boïedieu, François Adrien - Ouvertüre zur Oper „La dame blanche“

Instrumentalmusik der Vorklassik: Die Mannheimer Schule, die Bach-Söhne, die frühen Symphonien Haydns und Mozarts. Und in Frankreich? „Was mich am meisten bey der sach ärgert, ist, daß die herrn franzosen ihren gout nur in soweit ferbessert haben, daß sie nun das gute auch hören können. daß sie aber einseheten, daß ihre Musique schlecht seye, oder aufs wenigste einen unterschied bemerckten – Ey beleybe!“ berichtet Mozart aus Paris am 5. April 1778 seinem Vater in Salzburg – und zeichnet damit ein diskreditierendes Bild der französischen Musik, welches mit der Wirklichkeit nicht in Einklang zu bringen ist.

Zugegeben, die symphonischen Werke französischer Komponisten haben es vordergründig schwer, z.B. neben den Symphonien Mozart, Haydns und erst recht Beethovens zu bestehen. Aber ein solcher Vergleich würde auch viel zu kurz greifen, denn die Musikgeschichte der französischen Aufklärung steht so sehr im Zeichen der Oper und des „Buffonistensstreits“, dass der Instrumentalmusik nur eine untergeordnete Rolle zukam. War die Oper schon vor 1789 ein wichtiges Feld (und blieb es auch), so fegte die Revolution die Symphonik und Kammermusik geradezu hinweg, und sie führte – mit wenigen Ausnahmen wie Berlioz oder Saint-Saëns – bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts ein Schattendasein. Die Oper aber blühte, und Komponisten wie Grétry, Le Sueur (immerhin Lehrer Berlioz’ und Gounods), Méhul oder Boïeldieu schrieben eine erfolgreiche opéra comique nach der anderen. Gerade Boïeldieus La dame blanche von 1825 gilt noch heute als eine der wichtigsten französischen Opern und als Hauptwerk der Gattung opéra comique.

In der Tat findet sich in der Oper alles wieder, was – bei geschickter Verarbeitung – Erfolg versprechend ist: ein fremder junger Offizier, dem erst vom „Gespenst der weißen Frau“ berichtet wird und die ihm später tatsächlich persönlich begegnet, ein Erbschleicher, der sich ein Schloss unter den Nagel reißen will, ein junges, hübsches Mündel (natürlich nebst ältlicher Haushälterin), eine Liebe, die schon besteht, die nur die Wirrungen der Zeit verschüttete, eine Versteigerung, die an Spannung 

 
und Dramatik kaum zu überbieten ist – und natürlich ein Schatz, der dann doch alles zum guten Ende – vulgo zur Heirat – führt.

Boïeldieu verarbeitete in seiner Oper Folklore und lyrische Stücke vermischt mit romantischer Phantastik, in dem er die musikalischen Stilmittel der neuen Epoche nutzte. Neben einfachen Strophenliedern wie in Jennys Ballade über die Weiße Frau oder Marguerites sentimentaler Spinnrad-Arie, in welcher die Musik die Bewegungen des Spinnrads abbildet, gibt es raffinierte Ensemble-Szenen wie das Finale des 1. Aktes, wo ein Gewitter im Anzug ist. Stürmisch braust die Musik in chromatischen Tönen und sich verschiebenden Septakkorden, mit den Blitzschlägen des Piccolo und dem Donner der Pauke durchsetzt. Im Finale des 2. Aktes mit der von Mac-Irton geleiteten Versteigerung des Schlosses ist die Dramatik kaum zu überbieten. Während immer höhere Summen geboten werden, steigert sich die Musik mit unwiderstehlicher Kinetik, gefolgt von abruptem Wechsel der Tonart und effektvollen Einsätzen des Chores, wenn etwas Unverwartetes passiert. Die Harfe spielt in der Oper eine wichtige Rolle als Begleiterin der Weißen Dame. Die Holzbläser werden sehr subtil eingesetzt, während die Streicher aus ihrem vollen technischen Repertoire schöpfen. Dadurch erhält die Musik eine wunderbare Farbe und Geschmeidigkeit und sprüht zugleich von einfacher Spontaneität und Raffiniertheit.

La dame blanche weist typische Elemente der Romantik in ihrer gotischen Ausprägung auf, mit einer exotischen schottischen Ortschaft, einem verlorenen Erben, einem mysteriösen Schloss, einem versteckten Schatz und einem guten Geist. Der Stil dieser Oper Boïeldieus beeinflusste die Opern Lucia di Lammermoor, I puritani und La jolie fille de Perth nachhaltig. La dame blanche war einer der ersten Versuche, die Phantasie in die Oper zu bringen, und damit war sie auch Vorbild für Werke wie Meyerbeers Robert le diable und Gounods Faust. Es verwundert also kaum, dass die Oper großen Erfolg hatte und zum Standardwerk des Opernrepertoires im 19. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland wurde. Heute jedoch ist sie zumindest in Deutschland nahezu vergessen und wird nur noch selten aufgeführt.

Ulrich Witt