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Gade, Niels Wilhelm - Konzertouvertüre "Efterklange af Ossian", op. 1

Über Niels Wilhelm Gades Konzertouvertüre "Efterklange af Ossian" (Nachklänge von Ossian) gäbe es viel zu erzählen. Zum Beispiel, dass der Sohn eines Tischlers und kompositorische Autodidakt faktisch die komplette Profigarde der Komponisten seines Landes düpierte, indem er den vom Kopenhagener Musikverein ausgeschriebenen Kompositionswettbewerb mit seinem op. 1 gewann. Spannender aber ist eigentlich, dass er sich mit dem "Ossian"-Themas für sein op. 1 eines Inhalts bediente, das 80 Jahren lang schon ganz Europa aufwühlt hatte und gleichzeitig eine größten literarischen Fälschungen war, die vergleichbar erst 220 Jahre später einem Maler und "Schriftsteller" namens Konrad Kujau gelang.

In der Mitte 18. Jahrhunderts befand sich Europa auf einem Höhepunkt der "Keltomanie". Überall versuchte man, die keltische Kultur und Mythologie für weltanschauliche oder politische Zwecke zu vereinnahmen, insbesondere durch seine sehr verklärende Sicht auf die Kelten. Basierend auf die Diskussion um die Herkunft der französischen Sprache wurde es Mode, nicht nur Französisch, sondern auch viele andere Sprachen, Namen, bauliche Denkmäler u.a wurden auf keltische Ursprünge zurückzuführen und die Kelten zum Ursprung aller Kulturen und Sprachen zu erklären. Man war auf der Suche nach "seiner Geschichte", und wie ansonsten nur die Indianer in Amerika waren die Kelten prädestiniert dafür, mit dem Idealbild vom "edlen Wilden" in Verbindung gebracht zu werden.

Auch Hugh Blair - schottischer Geistlicher, Schriftsteller, Rhetoriker und wohl einer der einflussreichsten Autoren der schottischen Aufklärung - litt unter dieser Keltomanie. 1759 lernte er durch den Dichter John Home einen aus armen, schottischen Verhältnissen stammenden Hauslehrer namens James Macpherson kennen, der - im Gegensatz zur sonstigen Literate Edinburghs - auch gälisch sprach und vorgab, über einige Verse der schottischen Nationalpoesie im gälischen Urtext zu verfügen (die er durch Zufall auch schon übersetzt und parat hatte). Auf nachdrückliches Bitten nach mehr solcher Texte brachte Macpherson einige Tage später weitere Verse herbei, dessen Hauptstück Oskars Tod hieß und einen keltischen Helden aus dem irisch-schottischen Sagenkreis besang, in dessen Mittelpunkt die legendäre Gestalt des kriegerischen Finn oder Fingal steht.

Blair war begeistert und drängte Macpherson nach noch mehr von diesen Texten, die dieser "im schottischen Hochland gefunden" und aus dem Gälischen ins Englische übertragen, ansonsten aber allenfalls dichterisch etwas bearbeitet habe. Blair war sich sicher: die vorgeblichen Gesänge konnten nur aus keltischer Vorzeit stammen und Fragmente eines Nationalepos sein, wie es bislang in Schottland noch nicht aufgewiesen werden konnte. Nachdem Macpherson mehr Material geliefert hatte, gab Blair die Texte 1760 als "Fragments of Ancient Poetry" ("Bruchstücke alter Dichtung, in den schottischen Highlands gesammelt, aus dem Gälischen oder Ersischen übersetzt") heraus. Und er drängte Macpherson, weiter zu suchen und zu forschen - und Macpherson entdeckte schließlich wie durch ein Wunder auch noch die epischen Dichtungen "Fingal" und "Temora", die 1762 bzw. 1763 veröffentlicht wurden.

Die Haupt- und Rahmenfigur im Fingal bildete Ossian, der bereits in den Fragments aufgetaucht war. Dieser Ossian war ein alt und blind gewordener Barde, der als einziger den Heldentod seines Vaters Fingal und dessen legendärer Schar überlebt hatte. Geführt von Malvina, der jungen Witwe des gefallenen Oskar, besang er die Kämpfe und Taten vergangener Zeiten. Auf allen Seiten dieser Epen schallte die wehmütige Stimme des Barden Ossian, wallten die Nebel, klirrten die Schwerter, lagerten die Helden zwischen bemoosten Felsen und lieferten Sonne, Mond und Sterne die stimmungsvollsten Beleuchtungseffekte... Wir ahnen schon, wer der eigentliche Autor war: Macpherson, der den Ton seiner Lieder natürlich nicht der keltischen Vorzeit, sondern dem Zeitgeist der Gegenwart abgelauscht hatte. Aber gerade deshalb wirkten sie auf die Zeitgenossen überzeugend: Genau so großartig, tugendhaft und erhaben hatten sie sich die Vergangenheit vorgestellt.

Auch wenn sich schon nach kurzer Zeit erste Zweifel an der Originalität regten - die Gesänge wurden in ganz Europ begierig aufgenommen und 1765, inzwischen zu "Works of Ossian" ("Ossians Gesänge") vervollständigt, zusammengefasst herausgebracht. Viele Leser der vorromantischen Zeit waren empfänglich für Düsteres und Vorzeitliches und glaubten bereitwillig an die Wiederentdeckung eines Nationalepos. 1780 der Reverend John Smith die englische Übersetzung und 1787 den angeblichen gälischen Urtext von 14 Gedichten vor, die er im schottischeopn Hochland gefunden haben wollte. Sie wurden ins Deutsche und Italienische übersetzt und in Frankreich sogar der dortigen Ausgabe des Ossian beigefügt. Ähnlich verfuhr ein irischer Offizier namens Harold, der im Dienst des pfälzischen Kurfürsten 1775 den Ossian übersetzte. Er erweiterte dessen deutsche Ausgabe um drei angeblich neu entdeckte Gedichte, denen er 1787 weitere vierzehn und in den Jahren 1801 und 1802 nochmals zwei hinzufügte. Und schließlich schuf Louise Otto-Peters eine freie Nachdichtung auf den "Ossian" als Textvorlage für die Oper "Armor und Daura" des Komponisten Ferdinand Heinrich Thieriot. Weit über die Grenzen Schottlands hinaus begeisterte "Ossian“ eine ganze Dichtergeneration: Der Geist Ossians schwebte über dem Göttinger Hainbund, in dem sich die Stürmer und Dränger der deutschen Literatur versammelten. Er inspirierte sowohl einen Friedrich Stolberg als auch einen Johann Heinrich Voß, ehe deren Freundschaft über der französischen Revolution zerbrach. Er hat Herders ganzes Lebenswerk geprägt und ihn den Ossian mit Mosesop und Hiob vergleichen lassen. Er hat den jungen Goethe beherrscht und seinen Werther die Lieder von Selma für Lotte übersetzen lassen. Er ist nicht minder in den reifen Klopstock gefahren und hat ihn seine patriotischen Hermanns-Dramen ("Bardiet") dem schottischen Barden ablauschen lassen. Er hat schließlich unzählige namenlose Geister inspiriert, und sei es nur, indem sie ihre Kinder nach dem Ort Selma oder nach dem Helden Oskar nannten.

Die Ergriffenheit und Begeisterung, mit der die Gebildeten aller Stände und Länder der Stimme des vermeintlichen Barden Ossian lauschten, verwandelte sich deshalb keineswegs in Nachdenklichkeit und Beschämung, nachdem der Betrug offenbar geworden war. Besonders in Deutschland wurde zäh an der Legende festgehalten, daß Macpherson Finder und nicht der Ossian-Gedichte sei. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der Eindruck erweckt, die Ossian-Gedichte seien tatsächlich alter keltischer Überlieferung entsprungen. Der Vorwurf, es handele sich um Fälschungen, wird als bloße Behauptung relativiert. Nach der hier gebotenen Darstellung sprach Macpherson seine Verachtung solcher Afterkritik aus, trat aber nicht öffentlich dagegen auf, weil es ihm schmeichelte, daß die Welt ihm ein solches Dichtergenie zutraute.

Auch bei den Komponisten zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der Ossian-Stoff die Begeisterung für nationalhistorische Stoffe und volkstümliche Melodien geweckt. Nach dem Jahrhunderte langen Einfluß des italienischen Musik-Idioms erhielten nun (als Reiz des Neuen) altnordische Volksweisen Eingang in die orchestrale Klangwelt. Gade griff dieses auf, nachdem er 1838 von einer Reise durch Norwegen und Schweden zurückgekehrt war und sich mit einer Komposition am Kompositionswettbewerb des Kopenhagener Musikverein für das Jahr 1839 teilnehmen wollte. Über die Partitur notierte Gade als Motto ein Zitat von Ludwig Uhland: "Formel hält uns nicht gebunden, unsere Kunst heißt Poesie." Damit legitimiert er die für damalige Verhältnisse freie formale Anlage des Werks. Die Regeln des klassischen Stils durchbricht Gade, um einer höheren poetischen Idee zu dienen, auch wenn es hier noch kein literarisches Programm gibt wie später etwa bei Franz Liszt. Dennoch ist die kunstvolle Instrumentation der Ouvertüre überaus klangfarbenreich und effektvoll, wobei der Harfe als Attribut des nordischen Barden eine wichtige Rolle zukommt. Gade gelingt es damit, uns in eine längst vergangene Zeit mitzunehmen und uns eine Geschichte zu erzählen aus uralten Tagen, als noch die wehmütige Stimme der Barden ertönte, die Nebel wallten, die Schwerter klirrten, die Helden zwischen bemoosten Felsen lagerten und Sonne, Mond und Sterne die stimmungsvollsten Beleuchtungseffekte lieferten...

 

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